Ich bin Pepe,
der junge
Grünspecht auf dem Luisenfriedhof II.
In meinem Nest war es sehr bequem, aber auch langweilig, deshalb wurde ich flügge. Die ersten Tage meines Lebens sind stressig und gefährlich, weil andauernd Krähen hinter mir her sind. Diese Woche war es besonders schlimm, und meine Eltern und ich riefen um Hilfe.
Ein Menschenwesen entdeckte mich im Gras, meine Kopfhaut blutig, mein schönes rotes Haupthaar zur Hälfte weg. Ein zweites Menschenwesen brachte einen Korb, in den ich mich setzen sollte. Ich wollte nicht sterben, also blieb mir keine andere Wahl. Zu Mama und Papa sagte ich, dass sie sich keine Sorgen machen sollen. Ich bin bald zurück.
Das Menschenwesen trug mich ins Haus, und ich blieb still, um nicht die Aufmerksamkeit der Katze auf mich zu ziehen. Aufregend ist es hier!
Ich bekam ein ruhiges Zimmer auf dem Dachboden, mit viel Tageslicht und herrlicher Holznote. Das Menschenwesen legte Gras in meinen Korb, damit es weich und angenehm für mich ist. Ich schlief drei Stunden am Stück, während das Menschenwesen für mich einkaufen ging.
Draußen hörte ich die anderen Vögel — und wenn ich rief, konnten auch sie mich hören. Ich beschloss auf Wanderschaft zu gehen, und erkundete hüpfend und kletternd den gesamten Dachboden. Als das Menschenwesen zurückkam, versteckte ich mich. Ein wenig Herausforderung muss schließlich sein. Erst als ich bemerkte, dass es sich Sorgen machte, gab ich ein kurzes Lebenszeichen von mir. Ich war auf den entlegensten Dachbalken geklettert, den ich finden konnte. Nicht um mein Menschenwesen zu ärgern, sondern um ihm ohne Worte zu zeigen, dass ich schräge, verwinkelte Balken als gemütlich und sicher empfinde, wie auf den großen starken Ästen in der Natur. Zwei oder dreimal setzte ich meine Hinterlassenschaften auf den Balken ab, damit das Menschenwesen etwas zu putzen hatte. Daraufhin erhielt ich eine Lehrstunde im Kotabsetzen und lernte, meinen Hintern zur Seite zu heben, sodass mein Verdautes nicht mehr auf dem Balken landete und leichter wegzuputzen ging.
Das Menschenwesen brachte Kanülen mit Wasser und Brei. Anfangs war ich skeptisch, doch dann trank und aß ich. Sogar Ameisen bekam ich gereicht, die ich dankbar von einer Pinzette pickte. Plötzlich wurde es kühl auf meinem Kopf, als das Menschenwesen vorsichtig mit Wasser und einem Wattestäbchen die Wunde abtupfte, um anschließend heilende Creme aus der Apotheke aufzutragen. Das tat meinem Köpfchen gut. Zum Dank sprang ich dem Menschenwesen auf den Arm, dann auf die Schultern und schließlich auf den Kopf. Es muss Liebe auf den ersten Blick gewesen sein.
Unsere Nacht verlief ruhig. Ich schlief wie ein Stein und träumte davon, ein gesunder, kräftiger Vogel zu sein, der selbständig Ameisen vom Boden pickt. Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg. Früh am Morgen, gegen sechs Uhr, kam das Menschenwesen zu mir auf den Dachboden und gab mir Essen und Trinken. Ich piepste vergnügt. Als ich meine Eltern hörte, machte ich mich bemerkbar. Beide wunderten sich, da sie mich zwar hören, aber nicht sehen konnten. Das machte mein Menschenwesen nachdenklich.
Da meinem Menschenwesen nicht klar war, ob ich durch die Ersatzfütterung genügend Energiezufuhr erhalte, fasste es am Nachmittag den Beschluss, mich meinen Eltern zurückzubringen. Es zog seine Handschuhe an, setzte mich in eine tragbare Transportbox für Tiere und trug mich aus dem Haus in Richtung des großen Baumes, in dem ich geboren bin. Vorsichtig setzte das Menschenwesen mich an den dicken Stamm, an dem ich eine Zeit lang verunsichert hing. Als plötzlich der Regen einsetzte, krabbelte ich die ersten Schritte nach oben und rief nach meinen Eltern. Das Menschenwesen ließ mich nicht aus den Augen und wartete den erlösenden Moment ab, in dem meine Eltern aufgeregt zu mir geflogen kamen und mich fütterten. Mein Papa und ich kletterten immer höher, bis wir die Baumkrone erreichten. In mein Nest kehre ich nicht mehr zurück, denn wenn ich es einmal verlassen habe, mache ich keinen Schritt rückwärts. Ich will ja fliegen, essen und mich verteidigen lernen.
Zwei Stunden lang lief das Manöver gut, bis am frühen Abend mein Menschenwesen durch ohrenbetäubendes Geschrei aufgeschreckt wurde. Es kam sofort nach draußen, um die Situation zu überblicken.
Auf dem Boden war ich nicht zu finden, aber mein Menschenwesen entdeckte zwei Krähen in der Höhe des Terrassendachs. Eilig lief es nach oben, öffnete die Tür zur Dachterrasse und sah mich dort hilflos in einer großen Pfütze sitzen, die Flügel ausgebreitet. Die Krähen hatten mich vom Ast gestoßen, und ich war heruntergefallen. Weil ich schon flattern kann, wurde der Sturz etwas abgedämpft. Die Krähen machen mir ehrlich gesagt Angst. Warum ärgern die mich? Mama und Papa sagen, weil es Fressfeinde sind. Das weiß ich jetzt.
“Pepe (!)”
Das Menschenwesen kam schnell zu mir, griff mich und brachte mich auf den Dachboden in Sicherheit.
Gleich war klar, wo ich hinwollte: auf meinen Lieblingsdachbalken. Ich fühlte mich erschöpft, und mein Gefieder war komplett durchnässt. Mein Menschenwesen sprach beruhigend auf mich ein, strich sanft über meinen Körper und wünschte mir eine gute Nacht. Kurz vor Mitternacht kam es noch einmal nach mir sehen. Mir ging es gut, ich hatte mein Köpfchen nach hinten gelegt und schlief die ganze Nacht durch. Doch meinem Menschenwesen graute vor dem nächsten Tag, denn dann würde der Spagat von Neuem beginnen und ich erneut in Lebensgefahr schweben.
Um sechs Uhr war unsere Nacht vorbei. Mein Menschenwesen holte mich ab und wir gingen spazieren, die Box blieb dieses Mal vorne offen. Wir suchten nach einer Stelle mit vielen Ameisen, die ich aufpicken sollte. Geduld war gefragt, denn ich hatte nicht gleich verstanden, was das Menschenwesen von mir erwartete. Als ich noch immer zögerte, spazierten wir weiter.
“Komm du Punk, weiter geht’s”
Ich genoss es, herumgetragen zu werden und mir die Welt aus der sicheren Box anzuschauen, keine Krähe konnte sich auf mich stürzen.
Zurück am großen Baum rief ich nach meinen Eltern, die kurz darauf zu mir kamen und mich fütterten. Bestimmt wunderten sie sich, wo ich immer wieder unversehrt herkam. Da ich großen Hunger hatte, musste Papa dreimal fliegen und mir Ameisen bringen. Das Menschenwesen beobachtete mich noch eine Weile, um sicherzustellen, dass es mir gutging.
Es dauerte keine 30 Minuten, da segelte ich im Sturzflug diagonal in einen Busch. Mein Menschenwesen hatte mich im Augenwinkel gesehen und kam sofort mit der Box zu mir gelaufen. Als es dort ankam, entdeckte es auch meinen Bruder (Rocco), der jetzt ebenfalls unser warmes Nest verlassen hatte. Ich erkannte Begeisterung und Besorgnis im Gesicht meines Menschenwesens.
Mein Menschenwesen setzte mich wieder am großen Baum ab, in der Hoffnung, dass die Krähen von uns ablassen würden und durch die Warnschreie unserer Eltern abgeschreckt werden. Natürlich gibt es dafür keine Garantie. Die Natur folgt ihren eigenen Regeln.
Seitdem wurden mein Bruder und ich nicht mehr gesehen. Da aber auch kein lautes Geschrei zu hören war, das unser Menschenwesen alarmierte, bleibt die leise Hoffnung, dass wir gut zurechtkommen.
Ort der Fotografie: Luisenkirchhof II (Berlin-Westend)
Kamera: Fuji XT2
Objektiv: Micro Nikkor
Copyright: MC.N (Buckminster NEUE ZEIT)
Berlin, am 26.05.2024 © Buckminster NEUE ZEIT