Der Christopher Street Day 2024 in Berlin durch meine Augen:
Einmal von Westend mit dem Fahrrad nach Mitte, wo der diesjährige Christopher Street Day seinen Anfang nehmen soll. Kurz vor elf Uhr bin ich da und fahre staunend an den Trucks vorbei, die sich nacheinander in Position begeben. Vor mir ein Typ, der seinen vollständigen Namen auf der Jacke trägt, wie ich unschwer vom Rücken ablesen kann. Ein genervter Blick auf den Schriftzug verrät mir: es ist Matthias Mangiapane. Der trashige Gockel, der Claudia Obert vor einem Millionenpublikum im Fernsehen "Viech" nannte und sich dabei toll vorkam. Was für ein Idiot.
In seiner Selbstherrlichkeit verwechselt Mangiapane die Straße mit einem Catwalk, das Telefon demonstrativ in der Hand, damit die Menschen einen Eindruck von seiner Wichtigkeit erhalten.
Am liebsten möchte ich vorfahren und allen mitteilen, dass sie diesen Creep keines Blickes würdigen sollen. Da er mir egal ist, bemitleide ich kurz seine geltungssüchtige Existenz und vergesse ihn im nächsten Moment wieder.
In der Nähe des Startwagens erscheint Lisa Paus, die derzeitige Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, in einem lilafarbenen Kleid. Kameras und Mikrofone sind auf sie gerichtet. Kurz darauf wird Lisa Paus den Truck besteigen und Assistenten halten Regenschirme über die Redner:innen, damit sie nicht nass werden.
Neben mir unterhalten sich drei Gestalten:
„Und Krebs,... und Demenz,... und Tod.” Diese negative Energie schwappt gleich zu mir rüber, also muss ich sie im strengen Ton abwehren:
„Habt ihr keine anderen Themen? Es ist CSD und ihr redet nur über Krankheit und Tod. Das ist auch total gut für die eigene Gesundheit!” Die drei Gestalten verlieren kurz die Fassung, und siehe da, sie reden über andere Themen.
Minuten später kommt ein Mann an mir vorbei, von dem viele sagen, er sei ein Narzisst und peinlicher Selbstdarsteller. Mit etwas Menschenkenntnis lässt sich dieses Bild leicht bestätigen: Alfonso Pantisano ist ein Unsympath. 'Könnt ihr bitte alle auf mich und meine drei Bodyguards vom Landeskriminalamt schauen? Nein? Was ist das für eine Missachtung? Ich will, dass ihr alle guckt und vor Neid erstarrt. MACHT GEFÄLLIGST, WAS ICH EUCH IN GEDANKEN BEFEHLE.' Niemand guckt. Alfonso sieht sich noch ein paar Mal um, doch kaum jemand interessiert sich für ihn und seine Inszenierung. Gut so. Dieser peinliche Selbstdarsteller sollte rausgeschmissen werden.
Danach folgt das, was man getrost nur als Inkompetenz bezeichnen kann. Die Eröffnungsrede –oder vielmehr die aufeinanderfolgenden Reden– sind leider nicht zu hören, da ein Truck in unmittelbarer Nähe des Starttrucks zum Soundcheck und zur eigenen kleinen Pre-Party übergegangen ist. Den Krawalltruck präsentiert die Evangelische Kirche Deutschland, die angebliche Wiege der Menschenliebe und Barmherzigkeit.
Zum Grotesken gesellt sich der immer stärker werdende Regen. Später kann ich meine Handschuhe auswringen, so klitschnass ist meine Kleidung. Doch auch Regen hat seinen Charme, sodass mich die Durchnässtheit nicht weiter stört.
Der Demonstrationszug setzt sich in Gang und walzt in Richtung Leipziger Straße. An der Spitze wird ein Banner getragen, auf dem steht: 'Menschenrechte statt rechte Menschen'. Das ist natürlich nicht durchdacht.
Der Christopher Street Day wirbt für Toleranz, grenzt aber gleichzeitig unter dem Motto 'Menschenrechte statt rechte Menschen' alle aus, die politisch anders denken. Rechts zu sein, bedeutet nicht automatisch schlecht, problematisch oder intolerant zu sein. Rechts ist nicht rechtsradikal, nicht rechtsextremistisch, nicht nationalsozialistisch. Es ist eine normale, weit verbreitete politische Einstellung, die es zu respektieren gilt. Harald Martenstein bringt es scharfsinnig auf den Punkt:
«Bismarck, Begründer des deutschen Sozialstaats – rechts. Gustav Stresemann, der bei den Nazis verhasste Kanzler und Friedensnobelpreisträger – rechts. Der Hitler-Attentäter Stauffenberg und sein Team – rechts. Wer glaubt, rechts bedeute das gleiche wie rechtsradikal, ist dumm. Ich meine das nicht böse. Es muss auch dumme Menschen geben. Die Evolution hat es so gewollt.»
An der Neuen Nationalgalerie fühle ich mich zum ersten Mal repräsentiert und aufgehoben, da man hier nicht auf Teufel komm raus ein Statement abgeben will – auch kein optisches. Hier und da ein paar bunte Farben, ansonsten konzentriert sich die Gruppe auf die Kernfaktoren: Freiheit, Toleranz, Mitmenschen, Lebensfreude. Da auch Gebäude eine Seele haben, mag die Anziehungskraft am Künstlerischen liegen, das die Menschen fasziniert und die Zusammensetzung der Gruppe definiert. Es braucht keine (anstrengenden) Unterhaltungen, alle sind auf ihre Art glücklich, auch die, die scheinbar ihr eigenes Ding machen. In der Nähe gibt es Bowle in verschiedenen Sorten: Weißwein und schöne Erdbeeren, die wie gemalt aussehen, 0,5 Liter und der Preis ist auch noch okay. Geiles Getränk. Und eine fantastische DJane mit einem bewegenden Set. Solange mein Getränk reicht, bleibe ich an diesem Ort und genieße die Musik und die Menschen um mich herum.
Danach fahre ich im Schnelldurchlauf die gesamte Demostrecke ab und stelle fest, dass es überall friedlich, wenn auch mancherorts exzessiv und chaotisch zugeht. Eine Gruppe stramm nationalistischer Störenfriede wurde von der Polizei festgesetzt und durfte sich nicht in den CSD mischen, was gut ist. Generell hinterlässt die Polizei Berlin ein ordentliches und professionelles Bild, und die Veranstaltung wird trotz hoher Sicherheitsstufen nicht als 'Polizeievent' wahrgenommen.
Die Victoria Bar auf der Potsdamer Straße und die Ritter Butzke Bühne Unter den Linden sind Garantinnen für herausragende Musik. Vielen Dank für eure Beteiligung am Christopher Street Day.
Für mich geht es anschließend nach Westend zurück, um weltliche Dinge zu erledigen. Beim Einkaufen sehe ich eine Frau, die im Sessel vor einem Friseurgeschäft eingeschlafen zu sein scheint. Ich setze mich in den freien Sessel daneben, mache eine Pause und passe indirekt auf, dass sie nicht bestohlen wird – ihr Handy und ihre Tasche liegen nur lose in der Hand oder unter ihrem Arm. Dann kommt der Ladenbesitzer nach draußen und versucht, die Dame unsanft und unhöflich zu verscheuchen. Ich muss ihn zurechtweisen: „Alles gut, es mag Ihr Laden sein, aber behandeln Sie die Frau doch mit etwas mehr Respekt. Sie sehen doch, dass sie schwach ist. [...] Sie nerven! [...] Nein, Sie nerven.” Ich versuche, die Frau zu wecken, was mir auch gelingt, und sage ihr, dass sie auf ihre Sachen aufpassen soll. Für gewöhnlich würde mich ein solches Intermezzo innerlich aufreiben, aber ich übe mich darin, mehr Abstand zu den Dingen zu halten. Was mich tatsächlich aufreibt, ist die Sinnlosigkeit des Weltlichen. Es gibt aus meiner Sicht nichts lästigeres als einkaufen, Kühlschränke einräumen, abwaschen und Wäsche zum Trocknen aufhängen.
Am Abend fahre ich noch einmal zum Christopher Street Day und klinke mich ein. Die Masse der Leute hat sich am Brandenburger Tor, im Tiergarten und um die Siegessäule herum verlagert. Je später der Abend, desto chaotischer die Zustände und desto freizügiger auch der Körperkult. Bis auf einen Mann, der sich am Busch am Straßenrand selbst befriedigt und dies auch noch als Video aufnimmt und überträgt, bleiben mir niveaulose Nacktheiten erspart.
Die Menge an Müll erschüttert mich. Diejenigen, die ihn wegräumen müssen, tun mir jetzt schon leid. Ich setze mich an den Straßenrand und beobachte das Treiben. Um mich herum kreist ein Mann, der Aufmerksamkeit und Blickkontakt sucht. Was er nicht wissen kann: Er tut es vergebens. Meine abweisende Haltung lässt ihn weiterziehen.
Als der Regen erneut einsetzt und die Dunkelheit hereinbricht, mache ich mich auf den Heimweg. Später danke ich einer Scherbe, die mir einen Platten beschert hat – ein unfreiwilliger Stopp, der mich innehalten lässt. Ich gönne mir ein Eis am Klausener Platz und schlendere mit meinem Fahrrad im Arm nach Hause. Zuhause angekommen, suche ich mir als Erstes die Musik heraus, die mich heute auf meiner Tour begleitet hat.
Berlin, am 27./28. Juli 2024
Berlin, am 27./28.07.2024 © Buckminster NEUE ZEIT