Analyse des LinkedIn-Urteils KG-10-U-9524
Analyse des LinkedIn-Urteils KG-10-U-9524
Analyse des LinkedIn-Urteils KG-10-U-9524
Analyse des LinkedIn-Urteils KG-10-U-9524
Analyse des LinkedIn-Urteils KG-10-U-9524
Analyse des LinkedIn-Urteils KG-10-U-9524
1.) Sachverhalt und Verfahrensgang
Streitgegenstand des Rechtsstreits ist die Sperrung und Löschung von Inhalten des Nutzers Jörg Kuttig (Kläger) auf der Social-Plattform LinkedIn, die der Pflege und dem Aufbau beruflicher bzw. geschäftlicher Kontakte dient.
Der Kläger hatte dort im Jahr 2022 mehrere Beiträge veröffentlicht, die sich kritisch mit der Corona-Impfpolitik und den gesellschaftlichen Folgen der Impfpflicht auseinandersetzten. Drei der Beiträge wurden von LinkedIn unter Berufung auf Verstöße gegen die Nutzungsbedingungen und Community-Richtlinien der Plattform gelöscht; zudem wurde das Nutzerkonto des Klägers gesperrt.
Bei den von den dem Kläger verbreiteten und kurz darauf gesperrten Beiträgen handelte es sich um „einen Essay des Soziologen Alexander Zinn zur Ausgrenzung im Zusammenhang mit Impfungen, einen Offenen Brief des Staatsrechtlers Gerd Morgenthaler sowie eine Stellungnahme des "Netzwerks kritischer Richter und Staatsanwälte", jeweils gegen die Einführung einer Impfpflicht.” (Quelle: lto.de)
Hiergegen wandte sich der Kläger im ordentlichen Klageverfahren (Hauptsacheverfahren) vor dem Landgericht Berlin II (Az. 27 O 270/22). Das Landgericht verurteilte LinkedIn mit Urteil vom 2. Juli 2024 zur Wiederherstellung des Nutzerprofils des Klägers, wies jedoch den Antrag auf Wiederherstellung der drei gelöschten Beiträge zurück.
Gegen diese Entscheidung legte der Kläger Berufung ein. Um die vollständige Abweisung der Klage erreichen zu können, legte die Beklagte Anschlussberufung ein. Das Verfahren wurde ein Jahr nach dem landgerichtlichen Urteil vor dem Kammergericht (10. Zivilsenat) unter dem Aktenzeichen 10 U 95/24 verhandelt.
Nach mündlicher Verhandlung vom 10. Juli 2025 erging am 18. September 2025 das Urteil, mit dem das Kammergericht das landgerichtliche Urteil abänderte und die Klage insgesamt abwies.
Damit bestätigte das Kammergericht die Löschung der drei Beiträge und die Sperre des Nutzerkontos, da LinkedIn nach Auffassung des zuständigen Senats aufgrund der Nutzungsbedingungen in Verbindung mit Art. 14, 16 und 20 DSA (Digital Services Act) berechtigt gewesen sei, irreführende Inhalte zu entfernen und das Nutzerkonto des Klägers zu sperren.
2.) Analytische Herangehensweise und wie wir uns in diesem Fall (vorläufig) positionieren
Vorwort
Dadurch, dass das Verfahren noch nicht abgeschlossen ist (Verfassungsbeschwerde wurde angekündigt), und sich die Rechtslage unübersichtlich und komplex darstellt, bleibt eine abschließende Meinung vorbehalten.
Analytische Herangehensweise
Bei der Analyse des (umstrittenen) kammergerichtlichen ︎︎︎Urteils fällt auf, dass der zuständige 10. Zivilsenat einen Rechtsrahmen aufruft, der ausschließlich die Anwendung von Inhalten des ︎︎︎DSA (Digital Services Act, künftig nur noch DSA) vorsieht, jedoch die maßgebliche UCTD-Richtlinie 93/13/EWG (Unfair Contract Terms Directive, künftig nur UCTD) über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen vollständig außer Acht und dadurch unbehandelt lässt.
Bei der ︎︎︎UCT-Direktive handelt es sich um eine am 05. April 1993 in Kraft getretene EU-Richtlinie, die durch nationales Recht umgesetzt wird – in Deutschland §§ 305 ff. BGB.
Dadurch, dass im Jahr 1993 moderner Kommunikation noch nicht Rechnung getragen werden konnte, schafft die am 19. Oktober 2022 in Kraft getretene Verordnung des europäischen Parlaments und des Rates über einen Binnenmarkt für digitale Dienste und zur Änderung der Richtlinie 2000/31/EG (Gesetz über digitale Dienste), Digital Services Act (DSA), eine unionsweit unmittelbar geltende Verpflichtung, die den europäischen Rechtsrahmen für digitale Vermittlungsdienste grundlegend neu ordnet. Während die Richtlinie 93/13/EWG (UCTD) auf den Vertrag zwischen Unternehmer und Verbraucher (oder auch Konsument) und damit auf den Schutz vor missbräuchlichen Vertragsklauseln abstellt, zielt der DSA darauf ab, Verhaltens- und Verfahrenspflichten von Online-Plattformen zu regeln, insbesondere im Umgang mit rechtswidrigen oder irreführenden Inhalten, der Moderation von Beiträgen sowie der Transparenz gegenüber Nutzern.
Beide Rechtsakte stehen allerdings nicht in einem Ausschließlichkeitsverhältnis, sondern ergänzen sich: Die UCT-Direktive bleibt für die inhaltliche Kontrolle von Nutzungsbedingungen maßgeblich, während der DSA primär Verfahrensgarantien und Sorgfaltspflichten normiert.
Richtlinie UCTD → materieller Verbraucherschutz (AGB-Kontrolle)
DSA → prozeduraler Plattformrechtsschutz (Transparenz, Beschwerde, Löschung)
Verhältnis der Rechtsnaturen → komplementär, nicht ersetzend
Kurz: DSA regelt, wie eine Plattform handeln soll bzw. muss. UCTD regelt, was sie in ihren AGB überhaupt darf.
Um die Funktion und Besonderheit dieser beiden Rechtsnaturen zu ergründen, ist ein vergleichender Blick auf die unterschiedlichen Rechtsepochen – vor und nach Einführung des Digital Services Act (DSA) – erforderlich.
Das hier besprochene Urteil des Kammergerichts Berlin (10 U 95/24) fällt in die nach-DSA-Epoche, also derjenigen, in der der unionsrechtliche Regelungsrahmen des DSA bereits in Kraft und unmittelbar anwendbar ist.
Demgegenüber steht der ︎︎︎Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 24. August 2018 (Az. 18 W 1294/18), der der vor-DSA-Epoche zuzuordnen ist. Dieser Beschluss zeichnet sich durch seine grundrechtsorientierte Begründung aus, mit der die vertragliche und grundrechtliche Stellung von Nutzern sozialer Netzwerke im Lichte des nationalen Rechts herausarbeitet wurden.
Durch den Beschluss Az. 18 W 1294/18 wird festgehalten:
a) Das OLG München bejaht die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte bei derartigen Rechtsfragen, da die Beeinträchtigung der Meinungsfreiheit am Wohnsitz des Nutzers eintritt:
Rn. 25: „Falls die Sperrung der Antragstellerin bzw. die Löschung eines von ihr geposteten Beitrages ein „schädigendes Ereignis“ im Sinne von Art. 7 Nr. 2 EuGVVO darstellen sollte, träte dieses primär an ihrem Wohnsitz ein. Denn dort käme es zur Kollision der widerstreitenden Interessen der Antragstellerin auf Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) und der Antragsgegnerin auf Wahrung ihrer Gemeinschaftsstandards (vgl. zur Bedeutung dieses Gesichtspunkts für die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte im Falle einer Klage wegen einer Persönlichkeitsverletzung durch eine im Internet abrufbare Veröffentlichung BGH, Urteil vom 02.03.2010 – VI ZR 23/09, Rn. 20 ff., BGHZ 184, 313).”
b) Es stellt klar, dass das Rechtsschutzziel auch im Verfahren des Einstweiligen Rechtsschutzes zu erreichen ist.
c) Das Gericht wertet die Löschung grundrechtlich geschützter Beiträge sowie die Sperrung eines Nutzerprofils als rechtswidrigen Eingriff in die Meinungsfreiheit und verpflichtet Plattformen gem. ihrer Vertragsinhalte in Verb. mit § 241 Abs. 2 BGB zur Rücksichtnahme auf die Grundrechte ihrer Nutzer (”Facebook-Dienste”).
zu c) vgl. auch OLG München, ︎︎︎Beschluss vom 17.07.2018 - 18 W 858/18, Rn. 39-44:
2. Wir können sämtliche Inhalte und Informationen, die du auf F. postest, entfernen, wenn wir der Ansicht sind, dass diese gegen die Erklärung oder unsere Richtlinien verstoßen. (...)"
cc) Die Klausel 5.2 ist allerdings unwirksam, weil sie die Nutzer als Vertragspartner der Verwenderin entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligt (§ 307 Abs. 1 Satz 1 BGB).
Nach dem Wortlaut der Klausel – dem zugleich die bei der gebotenen Auslegung zu Lasten des Verwenders (§ 305 c Abs. 2 BGB) zugrunde zu legende kundenunfreundlichste Auslegung entspricht – kommt es für die Beurteilung der Frage, ob ein geposteter Beitrag gegen die Richtlinien der Antragsgegnerin verstößt und deshalb gelöscht werden darf, allein auf das Urteil der Antragsgegnerin an. Dieses einseitige Bestimmungsrecht der Antragsgegnerin steht im Widerspruch dazu, dass der Vertrag zwischen Nutzer und Plattformbetreiber gemäß § 241 Abs. 2 BGB seinem Inhalt nach beide Vertragsparteien zur Rücksichtnahme auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils verpflichtet (ebenso LG Frankfurt am Main, Beschluss vom 14.05.2018 – 2-03 O 182/18).
Für den Inhalt und die Reichweite der Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme ist im vorliegenden Fall von entscheidender Bedeutung, dass die von der Antragsgegnerin bereitgestellte Social-Media-Plattform dem Zweck dient, den Nutzern einen "öffentlichen M.platz" für Informationen und Meinungsaustausch zu verschaffen (vgl. OLG Frankfurt, Urteil vom 10.08.2017 – 16 U 255/16, Rn. 28, zit. nach juris). Im Hinblick auf die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte, insbesondere des Grundrechts des Nutzers auf Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG), muss deshalb gewährleistet sein, dass eine zulässige Meinungsäußerung nicht von der Plattform entfernt werden darf (ebenso LG Frankfurt am Main, Beschluss vom 14.05.2018 – 2-03 O 182/18, S. 4 f. m.w.N.).
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kommt den Grundrechten insoweit eine mittelbare Drittwirkung zu, als das Grundgesetz in seinem Grundrechtsabschnitt zugleich Elemente objektiver Ordnung aufgerichtet hat, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts Geltung haben, mithin auch das Privatrecht beeinflussen (BVerfG, Beschluss vom 23.04.1986 – 2 BvR 487/80, Rn. 25, BVerfGE 73, 261; Urteil vom 15.01.1958 – 1 BvR 400/51, Rn. 26, BVerfGE 7, 198; Jarass in Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 13. Aufl., Art. 1 Rn. 54 m.w.N.). In dieser Funktion zielen die Grundrechte nicht auf eine möglichst konsequente Minimierung von freiheitsbeschränkenden Eingriffen, sondern sind im Ausgleich gleichberechtigter Freiheit zu entfalten. Hierbei sind kollidierende Grundrechtspositionen in ihrer Wechselwirkung zu erfassen und nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz so zum Ausgleich zu bringen, dass sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11.04.2018 – 1 BvR 3080/09, Rn. 32 m.w.N., NJW 2018, 1667). Der Rechtsgehalt der Grundrechte als objektive Normen entfaltet sich im Privatrecht durch das Medium der dieses Rechtsgebiet unmittelbar beherrschenden Vorschriften, insbesondere der Generalklauseln und sonstigen auslegungsfähigen und -bedürftigen Begriffe, die im Sinne dieses Rechtsgehalts ausgelegt werden müssen (BVerfG, Beschluss vom 23.04.1986 – 2 BvR 487/80, Rn. 25, BVerfGE 73, 261).
Im vorliegenden Fall bildet die Vorschrift des § 241 Abs. 2 BGB die konkretisierungsbedürftige Generalklausel, bei deren Auslegung dem vom Antragsteller geltend gemachten Grundrecht auf freie Meinungsäußerung (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) Rechnung zu tragen ist Mit dem gebotenen Ausgleich der kollidierenden Grundrechtspositionen nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz wäre es unvereinbar, wenn die Antragsgegnerin gestützt auf ein "virtuelles Hausrecht" (vgl. LG Bonn, Urteil vom 16.11.1999 – 10 O 457/99, NJW 2000, 961) auf der von ihr bereitgestellten Social-Media-Plattform den Beitrag eines Nutzers, in dem sie einen Verstoß gegen ihre Richtlinien erblickt, auch dann löschen dürfte, wenn der Beitrag die Grenzen zulässiger Meinungsäußerung nicht überschreitet.”
hierzu auch LG Frankfurt am Main, ︎︎︎Beschluss vom 14.05.2018 - 2-03 O 182/18:
Leitsätze
1. Der Betreiber eines sozialen Netzwerks kann seine Verhaltensregeln grundsätzlich auch durch Entfernung eines rechtswidrigen Inhalts oder durch Sperrung eines Nutzeraccounts durchsetzen.
2. Der zwischen dem Nutzer und dem Plattformbetreiber geschlossene Vertrag beinhaltet jedoch Schutzpflichten des Plattformbetreibers gemäß § 241 Abs. 2 BGB, in deren Rahmen - im Wege der mittelbaren Drittwirkung - die Grundrechte der Betroffenen zu berücksichtigen sind.
3. Voraussetzung einer Sperre ist daher, dass der Ausschluss sachlich gerechtfertigt und nicht willkürlich ist. Eine Sperre und Löschung wegen einer Äußerung ist dann nicht gerechtfertigt, wenn die Äußerung von der Meinungsfreiheit gedeckt ist.
2. Der Antragsteller kann von der Antragsgegnerin gestützt auf die §§ 241 Abs. 2, 1004 BGB die Unterlassung der Sperre und der Löschung aufgrund der streitgegenständlichen Äußerung verlangen.
a. Die Parteien haben nach dem glaubhaft gemachten Vortrag des Antragstellers einen Vertrag über die Nutzung des sozialen Netzwerks der Antragsgegnerin geschlossen, bei dem es sich um einen schuldrechtlichen Vertrag mit miet-, werk- und dienstvertraglichen Elementen handelt (vgl. KG Berlin DNotZ 2018, 286 [KG Berlin 31.05.2017 - 21 U 9/16] Rn. 56 m.w.N.). Gegenstand dieses Vertrages sind auch die von der Antragsgegnerin gestellten Verhaltensregeln als AGB.
b. Grundsätzlich kann der Betreiber eines sozialen Netzwerks seine Verhaltensregeln auch durch Entfernung eines rechtswidrigen Inhalts oder durch Sperrung eines Nutzeraccounts durchsetzen (Schwartmann/Ohr in Schwartmann, Praxishanduch IT-, Urheber- und Medienrecht, 4. Aufl. 2018, Kap. 11 Rn. 40; vgl. zu einer Facebook-Seite auch VG München, Urt. v. 27.10.2017 - M 26 K 16.5928).
Eine solche Sperre ist jedoch nicht voraussetzungslos möglich, z.B. lediglich aufgrund einer ungeprüften Beschwerde eines anderen Nutzers. Der zwischen dem Nutzer und dem Plattformbetreiber geschlossene Vertrag beinhaltet Schutzpflichten des Plattformbetreibers gemäß § 241 Abs. 2 BGB. Im Rahmen dieser Schutzpflichten sind - im Wege der mittelbaren Drittwirkung - die Grundrechte der Betroffenen zu berücksichtigen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 11.04.2018 - 1 BvR 3080/09, BeckRS 2018, 6483), was insbesondere dazu führt, dass der Nutzer grundsätzlich ohne Furcht vor Sperren zulässige Meinungsäußerungen auf der Plattform kundtun darf.
Danach kann eine Sperre auch unter Berücksichtigung der dem Äußernden zu Gebote stehenden Meinungsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 GG gerechtfertigt sein, wenn der Äußernde mehrfach den Tatbestand der Beleidigung erfüllt und damit sowohl die Rechte anderer Nutzer verletzt als auch den Diskussionsverlauf nachhaltig gestört hat (VG München, Urt. v. 27.10.2017 - M 26 K 16.5928 Rn. 19 - juris). Hierbei kann auch Berücksichtigung finden, ob das Verhalten des Äußernden geeignet ist, eine weitere sachliche Diskussion zu verhindern bzw. andere Nutzer fernzuhalten (vgl. VG München, Urt. v. 27.10.2017 - M 26 K 16.5928 Rn. 27 - juris). Bei nachhaltigem, beleidigenden Verhalten soll der Betreiber nicht verpflichtet sein, den Nutzer weiterhin zu dulden (vgl. VG München, Urt. v. 27.10.2017 - M 26 K 16.5928 Rn. 30 - juris).
Diesen Einschränkungen der Möglichkeit des Plattformbetreibers, den Nutzer zu sperren, stehen grundsätzlich auch nicht die Nutzungsbedingungen der Antragsgegnerin (Anlagen KTB1, KTB2) entgegen. Diese können zwar als Auslegungshilfe dienen, aufgrund der Drittwirkung der Grundrechte können zulässige Meinungsäußerungen jedoch grundsätzlich nicht untersagt werden (vgl. LG Bonn MMR 2000, 109 [LG Bonn 16.11.1999 - 10 O 457/99]; LG Köln Urt. v. 4.5.2005 - 9 S 17/05, BeckRS 2005, 10688; VG München, Urt. v. 27.10.2017 - M 26 K 16.5928 Rn. 17 - juris).
c. Die streitgegenständliche Äußerung rechtfertigte ihre Löschung und die Sperrung des Antragstellers nicht. Sie stellt eine noch von der Meinungsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 GG gedeckte Meinungsäußerung dar.
Wie wir uns in diesem Fall (vorläufig) positionieren
Zu der Konklusion – „Die streitgegenständliche Äußerung rechtfertigte ihre Löschung und die Sperrung des Antragstellers nicht. Sie stellt eine noch von der Meinungsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 GG gedeckte Meinungsäußerung dar.” – hätten nach unserer Einschätzung sowohl das Landgericht als auch das Kammergericht Berlin gelangen müssen.
In einem Essay von Dr. Mateusz Grochowski, LL.M. (Yale) vom 18. Mai 2023 heißt es:
„Die Prämisse, dass die Nutzungsbedingungen einer Plattform Bestandteil eines B2C-Vertrags sind, wurde in der Rechtsprechung des EuGH nicht ernsthaft in Frage gestellt. Lange bevor die Regulierung von Plattformen ganz oben auf der Agenda der digitalen Märkte der EU stand, hatte das Amazon-Urteil von 2016 dies bereits eindeutig bestätigt. In Beantwortung eines Vorabentscheidungsersuchens zur Rechtswahlklausel in den Amazon-Nutzungsbedingungen stellte der Gerichtshof klar, dass die Amazon-Nutzungsbedingungen – wie alle anderen vorformulierten Verbraucherverträge – gemäß der UCTD auf Unangemessenheit geprüft werden sollten. Zweifellos gilt dieselbe Logik auch für Social-Media-Plattformen. Der EuGH bestätigte eindeutig, dass die Beziehung zwischen Plattform und Nutzer auf einem Verbrauchervertrag beruht und dass dieser Charakter verloren gehen kann, wenn die Online-Aktivitäten des Nutzers „überwiegend beruflicher Natur“ werden (Schrems-Urteil).
Die Folge waren deutsche Präzedenzfälle. In einer Reihe von Urteilen befassten sich deutsche Gerichte mit Klagen einzelner Social-Media-Nutzer, die einer Plattform (meist Facebook) die Verletzung ihrer Rechte vorwarfen. Kernpunkt all dieser Streitigkeiten war eine Klausel in den Nutzungsbedingungen, die der Plattform verschiedene Rechte gegenüber den Nutzern einräumte. Letztlich waren sich die deutschen Gerichte verschiedener Instanzen einig, dass der Angemessenheitstest gemäß §§ 305–310 BGB (der die UCTD umsetzte) der maßgebliche Maßstab für die Überprüfung dieser Fälle war. Aufgrund der spezifischen Thematik und der betroffenen individuellen Rechte hatten die meisten dieser Fälle das Potenzial, wegweisend zu sein. [...]
Sie alle basieren auf dem grundlegenden Gedanken des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ,dass die Schaffung eines Raums für den öffentlichen Diskurs eine höhere Verantwortung für die Achtung der Grundrechte mit sich bringt.
Mehrere BGH-Entscheidungen befassten sich eingehender mit den Moderationsmechanismen der Plattformen. Das Gericht legte in diesen Entscheidungen Grundrechte – insbesondere die Meinungsfreiheit – als Maßstab für die Überprüfung zugrunde, ob die von den Plattformen einseitig in ihren Nutzungsbedingungen festgelegten Moderationsrechte dem erwarteten Standard des Nutzerschutzes entsprachen. Dieser Ansatz wurde insbesondere in den BGH-Urteilen von 2021 zum Thema „Hassrede“ (︎︎︎III ZR 179/20 und ︎︎︎III ZR 192/20) deutlich. In diesen beiden Fällen befasste sich der BGH mit den Klagen von Facebook-Nutzern, deren Konten vorübergehend gesperrt und deren Kommentare unter Beiträgen anderer Nutzer gelöscht worden waren. Facebook argumentierte zur Rechtfertigung dieser Sanktionen, dass die Nutzer in beiden Fällen durch die Verwendung von “Hassrede” gegen die Community-Standards der Plattform verstoßen hätten.
Laut BGH verstieß diese Regulierung der Meinungsfreiheit gegen Treu und Glauben und stellte einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Meinungsfreiheit der Nutzer dar. Der BGH wies ferner darauf hin, dass dieses Recht mit dem Recht des Plattformbetreibers auf Ausübung einer Geschäftstätigkeit, das gleichermaßen im Grundgesetz verankert ist, in Einklang gebracht werden müsse.
Die vom Bundesgerichtshof in diesem Fall aufgestellte Checkliste zur Überprüfung der Facebook-Nutzungsbedingungen basiert daher auf drei Säulen: Meinungsfreiheit, Marktfreiheit und den Interessen der Plattformnutzer als Verbraucher.
[...]
Die gerichtliche Überprüfung unfairer Bedingungen trägt einer dezentralen Plattform-Governance Rechnung, die auf Interessen des Verbrauchers basiert. Der DSA hingegen verfolgt eine ganzheitlichere Perspektive. Er zielt darauf ab, alle Online-Vermittler (nicht nur soziale Medien) in einheitliche Standards und Regeln einzubeziehen und gegebenenfalls in konsolidierte Durchsetzungsmechanismen zu integrieren.
Wie könnten diese beiden Mechanismen nach Inkrafttreten des DSA interagieren? Werden die gezielten Regeln des DSA zur privaten Regulierung durch Plattformen und zur Online-Inhaltsmoderation die auf der UCTD basierende Überprüfung der Nutzungsbedingungen ersetzen?
Die einfachste und überzeugendste Antwort lautet: Kaum.
DSA [...] vermeidet weitgehend direkte Verbindungen zum Verbraucherschutz. Dadurch spaltet der DSA die Online-Marktregulierung in zwei Bereiche: Inhaltsmoderation nach plattformspezifischen Regeln einerseits und die etablierten Instrumente des Verbraucherschutzes andererseits. Diese Aufteilung bietet zwar ein breiteres Spektrum an Instrumenten zum Schutz von Nutzern im Internet, wird aber durch kein Koordinierungsschema ergänzt. Die Folge ist, dass ein und dieselbe Frage (z. B. die zulässigen Kriterien für die Sperrung eines Benutzerkontos) von Gerichten im Rahmen der Unfairnessprüfung anders beurteilt werden kann als von den gemäß dem DSA eingesetzten Regulierungsbehörden für digitale Märkte. Solche Unstimmigkeiten können sowohl auf EU- als auch auf nationaler Ebene sowie zwischen beiden auftreten. Die Chancen, dass Gerichte und Regulierungsbehörden ihre Vorgehensweisen auf diesen Ebenen tatsächlich koordinieren, erscheinen eher gering.”
Grochowski, Mateusz: Vom Vertragsrecht zur Online-Rederegulierung, VerfBlog, 18.05.2023
Das Urteil des Kammergerichts Berlin vom 18. September 2025 dürfte daher ein formales, rechtswidriges (weil alleiniges) Ausweichen auf den Digital Services Act darstellen und entsprechend aufzuheben sein, was den Erfolg im Nichtzulassungs- oder Verfassungsbeschwerdeverfahren voraussetzt. Der Gegenstandswert im Verfahren von Jörg Kuttig ist evtl. zu gering, um eine revisionsgerichtliche Überprüfung durch den Bundesgerichtshof zu erreichen, weswegen dann nur noch der Weg zum Bundesverfassungsgericht eröffnet ist. Eine Verfassungsbeschwerde wurde vom Rechtsanwalt des Klägers bereits angekündigt.
Die Rechtsprechung, die wir mit dem Urteil KG, Az.: 10 U 95/24 erleben, steht im Kontrast zu früherer, grundrechtsbezogener Rechtsprechung (wie erörtert). Der Senat, der in der gegenwärtigen Besetzung immer häufiger durch zweifelhafte Solitärentscheidungen auffällt, hat eine Linie eingeschlagen, die im Ergebnis auf eine Hierarchisierung von Wahrheit hinausläuft: Über der individuellen Meinungsfreiheit wird eine von Behörden oder staatlichen Institutionen definierte (vermeintlich objektive) Wahrheitsebene etabliert.
Der DSA verpflichtet große Plattformen außerdem zu Maßnahmen gegen sogenannte „desinformative Inhalte“ und droht bei Nichterfüllung mit empfindlichen Bußgeldern bzw. Strafzahlungen. Dieser Regulierungsansatz, den das Kammergericht mit seinem Urteil gutheißt, birgt die Gefahr, dass Plattformen aus Furcht vor Sanktionen jede Form abweichender oder kritischer Auseinandersetzung, die sich nicht in den Konsens staatlicher oder behördlicher Einschätzungen fügt, präventiv bzw. im vorauseilenden Gehorsam unterdrücken. Im Kern läuft dieses Konzept, das zu Recht auf breite Kritik stößt, auf eine Delegation von Wahrheitskompetenz an staatliche oder quasi-staatliche Stellen hinaus, und damit auf eine strukturelle Verdrängung des offenen Meinungsaustauschs, der doch aber das Wesen demokratischer Verfasstheit ausmacht.
Das Kammergericht operiert mit seinem LinkedIn-Urteil in einem Geist regulatorischer Unterdrückung, da es sich ausschließlich auf die Vorgaben des Digital Services Act (DSA) stützt und der Plattform LinkedIn das Recht zuspricht, Beiträge zu löschen, die den Richtlinien, Ansichten oder Vorgaben der WHO oder lokaler Gesundheitsbehörden widersprechen. Damit erhebt das Gericht faktisch die behördliche Sichtweise zu einer verbindlichen Wahrheitsinstanz und verschiebt den Diskurs von einem pluralistischen Meinungsraum hin zu einer verwaltungsförmig beaufsichtigten Kommunikationsordnung.
Das ist ein offener Bruch mit den Grundsätzen der Meinungsfreiheit (Art. 11 GRCh, Art. 8 & 10 EMRK, Art. 5 Abs. 1 GG).
Das Kammergericht Berlin behandelt den Digital Services Act (DSA) lex specialis, wodurch die bisherige UCTD- und AGB-Kontrolllogik verdrängt wird.
Im Ergebnis wird (vorläufig) klar, dass das Urteil des Kammergerichts Berlin vom 18.09.2025 keinen Bestand haben darf.
Ergänzender Hinweis
In einer Reihe von Entscheidungen wurde die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte gegenüber Unternehmen mit Sitz in Irland, z.B. LinkedIn oder Google, ausdrücklich bejaht.
„Die im deutschen Recht verankerte Störerhaftung ist mit dem Digital Services Act (DSA) der EU vereinbar. Das hat das Oberlandesgericht Düsseldorf (OLG) in einer Sitzung am 2. September in einem in einem Eilverfahren zwischen der Stuttgarter Firma Skinport und Google Irland entschieden (Az.: I-20 U 16/25). In dem heise online vorliegenden Protokoll des öffentlichen Termins weist der zuständige 20. Zivilsenat darauf hin, dass nach seiner Auffassung Artikel 6 DSA "die bisherige aufgrund der Vorgängervorschriften in der E-Commerce-Richtlinie praktizierte Störerhaftung weiter" zulasse.“
OLG Düsseldorf, Entscheidung v. 02.09.2025, Az.: I-20 U 16/25
Die Klage ist zulässig. Die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte, die auch unter Geltung des § 545 Abs. 2 ZPO in der Revisionsinstanz von Amts wegen zu prüfen ist (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 21. Januar 2021 - I ZR 20/17, GRUR 2021, 730 [juris Rn. 16] = WRP 2021, 471 - Davidoff Hot Water IV, mwN), ist gegeben. Sie folgt aus Art. 7 Nr. 2 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 (Brüssel-Ia-VO). Die Klägerin macht die Verletzung von im Inland geschützten Kennzeichenrechten - ihrer Marke und ihres Unternehmenskennzeichens - mittels eines in Deutschland abrufbaren und bestimmungsgemäß an den inländischen Verkehr gerichteten Internetangebots geltend (vgl. BGH, Urteil vom 15. Februar 2018 - I ZR 201/16, GRUR 2018, 935 [juris Rn. 17] = WRP 2018, 1081 - goFit; Urteil vom 15. Oktober 2020 - I ZR 210/18, GRUR 2020, 1311 [juris Rn. 16] = WRP 2021, 42 - Vorwerk).
BGH, Urteil vom 14.07.2022 - I ZR 121/21
Die internationale und örtliche Zuständigkeit des Landgerichts Hamburg folgen aus Art. 5 Nr. 3 des Lugano-Übereinkommens i.V.m. § 943 I ZPO. Nach Art. 5 Nr. 3 LugÜ kann im Hauptsacheverfahren eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines durch dieses Übereinkommen gebundenen Staates hat, in einem anderen durch dieses Übereinkommen gebundenen Staat verklagt werden, wenn eine unerlaubte Handlung oder eine Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, oder wenn Ansprüche aus einer solchen Handlung den Gegenstand des Verfahrens bilden, und zwar vor dem Gericht des Ortes, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist oder einzutreten droht. Als Ort, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist, gilt jedenfalls auch der Erfolgsort, also derjenige Ort, an welchem die geltend gemachte rechtsverletzende Handlung in das Schutzrecht eingreift. Art. 31 des LugÜ enthält davon keine Abweichung für das einstweilige Rechtsschutzverfahren (sondern eröffnet lediglich zusätzliche internationale Zuständigkeiten). Daher greift § 943 I ZPO für die Zuständigkeiten im eV-Verfahren ein.
LG Hamburg, Beschluss vom 12.05.2021 - 310 O 99/21
Google Ireland Limited ist aufgrund des Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Lugano-Übereinkommen, LugÜ) grundsätzlich zulässig in Deutschland in Anspruch zu nehmen.
vgl. Lugano-Übereinkommen: BVerfG, Beschluss vom 13.02.2020 - 2 BvR 739/17
a) Die vom Landgericht stillschweigend unterstellte – auch im Beschwerdeverfahren von Amts wegen zu prüfende (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 28.11.2002 – III ZR 102/02, NJW 2003, 426) – internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte ist zu bejahen. Maßgeblich ist die Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.12.2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVVO), weil die Antragsgegnerin ihren Sitz in Irland und damit in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union hat. Im Rahmen der Zuständigkeitsprüfung kann letztlich dahinstehen, ob es sich bei dem geltend gemachten Verfügungsanspruch um einen vertraglichen Erfüllungsanspruch oder um einen Anspruch aus unerlaubter Handlung handelt. In beiden Fällen wäre das Landgericht München II örtlich und damit auch international zuständig.
OLG München, Beschluss vom 24.08.2018 - 18 W 1294/18
Hervorzuheben ist ︎︎︎ BGH, Urteil vom 02.03.2010 - VI ZR 23/09
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Der Kläger hatte dort im Jahr 2022 mehrere Beiträge veröffentlicht, die sich kritisch mit der Corona-Impfpolitik und den gesellschaftlichen Folgen der Impfpflicht auseinandersetzten. Drei der Beiträge wurden von LinkedIn unter Berufung auf Verstöße gegen die Nutzungsbedingungen und Community-Richtlinien der Plattform gelöscht; zudem wurde das Nutzerkonto des Klägers gesperrt.
Bei den von den dem Kläger verbreiteten und kurz darauf gesperrten Beiträgen handelte es sich um „einen Essay des Soziologen Alexander Zinn zur Ausgrenzung im Zusammenhang mit Impfungen, einen Offenen Brief des Staatsrechtlers Gerd Morgenthaler sowie eine Stellungnahme des "Netzwerks kritischer Richter und Staatsanwälte", jeweils gegen die Einführung einer Impfpflicht.” (Quelle: lto.de)
Hiergegen wandte sich der Kläger im ordentlichen Klageverfahren (Hauptsacheverfahren) vor dem Landgericht Berlin II (Az. 27 O 270/22). Das Landgericht verurteilte LinkedIn mit Urteil vom 2. Juli 2024 zur Wiederherstellung des Nutzerprofils des Klägers, wies jedoch den Antrag auf Wiederherstellung der drei gelöschten Beiträge zurück.
Gegen diese Entscheidung legte der Kläger Berufung ein. Um die vollständige Abweisung der Klage erreichen zu können, legte die Beklagte Anschlussberufung ein. Das Verfahren wurde ein Jahr nach dem landgerichtlichen Urteil vor dem Kammergericht (10. Zivilsenat) unter dem Aktenzeichen 10 U 95/24 verhandelt.
Nach mündlicher Verhandlung vom 10. Juli 2025 erging am 18. September 2025 das Urteil, mit dem das Kammergericht das landgerichtliche Urteil abänderte und die Klage insgesamt abwies.
Damit bestätigte das Kammergericht die Löschung der drei Beiträge und die Sperre des Nutzerkontos, da LinkedIn nach Auffassung des zuständigen Senats aufgrund der Nutzungsbedingungen in Verbindung mit Art. 14, 16 und 20 DSA (Digital Services Act) berechtigt gewesen sei, irreführende Inhalte zu entfernen und das Nutzerkonto des Klägers zu sperren.
2.) Analytische Herangehensweise und wie wir uns in diesem Fall (vorläufig) positionieren
Vorwort
Dadurch, dass das Verfahren noch nicht abgeschlossen ist (Verfassungsbeschwerde wurde angekündigt), und sich die Rechtslage unübersichtlich und komplex darstellt, bleibt eine abschließende Meinung vorbehalten.
Analytische Herangehensweise
Bei der Analyse des (umstrittenen) kammergerichtlichen ︎︎︎Urteils fällt auf, dass der zuständige 10. Zivilsenat einen Rechtsrahmen aufruft, der ausschließlich die Anwendung von Inhalten des ︎︎︎DSA (Digital Services Act, künftig nur noch DSA) vorsieht, jedoch die maßgebliche UCTD-Richtlinie 93/13/EWG (Unfair Contract Terms Directive, künftig nur UCTD) über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen vollständig außer Acht und dadurch unbehandelt lässt.
Bei der ︎︎︎UCT-Direktive handelt es sich um eine am 05. April 1993 in Kraft getretene EU-Richtlinie, die durch nationales Recht umgesetzt wird – in Deutschland §§ 305 ff. BGB.
Dadurch, dass im Jahr 1993 moderner Kommunikation noch nicht Rechnung getragen werden konnte, schafft die am 19. Oktober 2022 in Kraft getretene Verordnung des europäischen Parlaments und des Rates über einen Binnenmarkt für digitale Dienste und zur Änderung der Richtlinie 2000/31/EG (Gesetz über digitale Dienste), Digital Services Act (DSA), eine unionsweit unmittelbar geltende Verpflichtung, die den europäischen Rechtsrahmen für digitale Vermittlungsdienste grundlegend neu ordnet. Während die Richtlinie 93/13/EWG (UCTD) auf den Vertrag zwischen Unternehmer und Verbraucher (oder auch Konsument) und damit auf den Schutz vor missbräuchlichen Vertragsklauseln abstellt, zielt der DSA darauf ab, Verhaltens- und Verfahrenspflichten von Online-Plattformen zu regeln, insbesondere im Umgang mit rechtswidrigen oder irreführenden Inhalten, der Moderation von Beiträgen sowie der Transparenz gegenüber Nutzern.
Beide Rechtsakte stehen allerdings nicht in einem Ausschließlichkeitsverhältnis, sondern ergänzen sich: Die UCT-Direktive bleibt für die inhaltliche Kontrolle von Nutzungsbedingungen maßgeblich, während der DSA primär Verfahrensgarantien und Sorgfaltspflichten normiert.
Richtlinie UCTD → materieller Verbraucherschutz (AGB-Kontrolle)
DSA → prozeduraler Plattformrechtsschutz (Transparenz, Beschwerde, Löschung)
Verhältnis der Rechtsnaturen → komplementär, nicht ersetzend
Kurz: DSA regelt, wie eine Plattform handeln soll bzw. muss. UCTD regelt, was sie in ihren AGB überhaupt darf.
Um die Funktion und Besonderheit dieser beiden Rechtsnaturen zu ergründen, ist ein vergleichender Blick auf die unterschiedlichen Rechtsepochen – vor und nach Einführung des Digital Services Act (DSA) – erforderlich.
Das hier besprochene Urteil des Kammergerichts Berlin (10 U 95/24) fällt in die nach-DSA-Epoche, also derjenigen, in der der unionsrechtliche Regelungsrahmen des DSA bereits in Kraft und unmittelbar anwendbar ist.
Demgegenüber steht der ︎︎︎Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 24. August 2018 (Az. 18 W 1294/18), der der vor-DSA-Epoche zuzuordnen ist. Dieser Beschluss zeichnet sich durch seine grundrechtsorientierte Begründung aus, mit der die vertragliche und grundrechtliche Stellung von Nutzern sozialer Netzwerke im Lichte des nationalen Rechts herausarbeitet wurden.
Durch den Beschluss Az. 18 W 1294/18 wird festgehalten:
a) Das OLG München bejaht die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte bei derartigen Rechtsfragen, da die Beeinträchtigung der Meinungsfreiheit am Wohnsitz des Nutzers eintritt:
Rn. 25: „Falls die Sperrung der Antragstellerin bzw. die Löschung eines von ihr geposteten Beitrages ein „schädigendes Ereignis“ im Sinne von Art. 7 Nr. 2 EuGVVO darstellen sollte, träte dieses primär an ihrem Wohnsitz ein. Denn dort käme es zur Kollision der widerstreitenden Interessen der Antragstellerin auf Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) und der Antragsgegnerin auf Wahrung ihrer Gemeinschaftsstandards (vgl. zur Bedeutung dieses Gesichtspunkts für die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte im Falle einer Klage wegen einer Persönlichkeitsverletzung durch eine im Internet abrufbare Veröffentlichung BGH, Urteil vom 02.03.2010 – VI ZR 23/09, Rn. 20 ff., BGHZ 184, 313).”
b) Es stellt klar, dass das Rechtsschutzziel auch im Verfahren des Einstweiligen Rechtsschutzes zu erreichen ist.
c) Das Gericht wertet die Löschung grundrechtlich geschützter Beiträge sowie die Sperrung eines Nutzerprofils als rechtswidrigen Eingriff in die Meinungsfreiheit und verpflichtet Plattformen gem. ihrer Vertragsinhalte in Verb. mit § 241 Abs. 2 BGB zur Rücksichtnahme auf die Grundrechte ihrer Nutzer (”Facebook-Dienste”).
zu c) vgl. auch OLG München, ︎︎︎Beschluss vom 17.07.2018 - 18 W 858/18, Rn. 39-44:
2. Wir können sämtliche Inhalte und Informationen, die du auf F. postest, entfernen, wenn wir der Ansicht sind, dass diese gegen die Erklärung oder unsere Richtlinien verstoßen. (...)"
cc) Die Klausel 5.2 ist allerdings unwirksam, weil sie die Nutzer als Vertragspartner der Verwenderin entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligt (§ 307 Abs. 1 Satz 1 BGB).
Nach dem Wortlaut der Klausel – dem zugleich die bei der gebotenen Auslegung zu Lasten des Verwenders (§ 305 c Abs. 2 BGB) zugrunde zu legende kundenunfreundlichste Auslegung entspricht – kommt es für die Beurteilung der Frage, ob ein geposteter Beitrag gegen die Richtlinien der Antragsgegnerin verstößt und deshalb gelöscht werden darf, allein auf das Urteil der Antragsgegnerin an. Dieses einseitige Bestimmungsrecht der Antragsgegnerin steht im Widerspruch dazu, dass der Vertrag zwischen Nutzer und Plattformbetreiber gemäß § 241 Abs. 2 BGB seinem Inhalt nach beide Vertragsparteien zur Rücksichtnahme auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils verpflichtet (ebenso LG Frankfurt am Main, Beschluss vom 14.05.2018 – 2-03 O 182/18).
Für den Inhalt und die Reichweite der Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme ist im vorliegenden Fall von entscheidender Bedeutung, dass die von der Antragsgegnerin bereitgestellte Social-Media-Plattform dem Zweck dient, den Nutzern einen "öffentlichen M.platz" für Informationen und Meinungsaustausch zu verschaffen (vgl. OLG Frankfurt, Urteil vom 10.08.2017 – 16 U 255/16, Rn. 28, zit. nach juris). Im Hinblick auf die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte, insbesondere des Grundrechts des Nutzers auf Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG), muss deshalb gewährleistet sein, dass eine zulässige Meinungsäußerung nicht von der Plattform entfernt werden darf (ebenso LG Frankfurt am Main, Beschluss vom 14.05.2018 – 2-03 O 182/18, S. 4 f. m.w.N.).
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kommt den Grundrechten insoweit eine mittelbare Drittwirkung zu, als das Grundgesetz in seinem Grundrechtsabschnitt zugleich Elemente objektiver Ordnung aufgerichtet hat, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts Geltung haben, mithin auch das Privatrecht beeinflussen (BVerfG, Beschluss vom 23.04.1986 – 2 BvR 487/80, Rn. 25, BVerfGE 73, 261; Urteil vom 15.01.1958 – 1 BvR 400/51, Rn. 26, BVerfGE 7, 198; Jarass in Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 13. Aufl., Art. 1 Rn. 54 m.w.N.). In dieser Funktion zielen die Grundrechte nicht auf eine möglichst konsequente Minimierung von freiheitsbeschränkenden Eingriffen, sondern sind im Ausgleich gleichberechtigter Freiheit zu entfalten. Hierbei sind kollidierende Grundrechtspositionen in ihrer Wechselwirkung zu erfassen und nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz so zum Ausgleich zu bringen, dass sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11.04.2018 – 1 BvR 3080/09, Rn. 32 m.w.N., NJW 2018, 1667). Der Rechtsgehalt der Grundrechte als objektive Normen entfaltet sich im Privatrecht durch das Medium der dieses Rechtsgebiet unmittelbar beherrschenden Vorschriften, insbesondere der Generalklauseln und sonstigen auslegungsfähigen und -bedürftigen Begriffe, die im Sinne dieses Rechtsgehalts ausgelegt werden müssen (BVerfG, Beschluss vom 23.04.1986 – 2 BvR 487/80, Rn. 25, BVerfGE 73, 261).
Im vorliegenden Fall bildet die Vorschrift des § 241 Abs. 2 BGB die konkretisierungsbedürftige Generalklausel, bei deren Auslegung dem vom Antragsteller geltend gemachten Grundrecht auf freie Meinungsäußerung (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) Rechnung zu tragen ist Mit dem gebotenen Ausgleich der kollidierenden Grundrechtspositionen nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz wäre es unvereinbar, wenn die Antragsgegnerin gestützt auf ein "virtuelles Hausrecht" (vgl. LG Bonn, Urteil vom 16.11.1999 – 10 O 457/99, NJW 2000, 961) auf der von ihr bereitgestellten Social-Media-Plattform den Beitrag eines Nutzers, in dem sie einen Verstoß gegen ihre Richtlinien erblickt, auch dann löschen dürfte, wenn der Beitrag die Grenzen zulässiger Meinungsäußerung nicht überschreitet.”
hierzu auch LG Frankfurt am Main, ︎︎︎Beschluss vom 14.05.2018 - 2-03 O 182/18:
Leitsätze
1. Der Betreiber eines sozialen Netzwerks kann seine Verhaltensregeln grundsätzlich auch durch Entfernung eines rechtswidrigen Inhalts oder durch Sperrung eines Nutzeraccounts durchsetzen.
2. Der zwischen dem Nutzer und dem Plattformbetreiber geschlossene Vertrag beinhaltet jedoch Schutzpflichten des Plattformbetreibers gemäß § 241 Abs. 2 BGB, in deren Rahmen - im Wege der mittelbaren Drittwirkung - die Grundrechte der Betroffenen zu berücksichtigen sind.
3. Voraussetzung einer Sperre ist daher, dass der Ausschluss sachlich gerechtfertigt und nicht willkürlich ist. Eine Sperre und Löschung wegen einer Äußerung ist dann nicht gerechtfertigt, wenn die Äußerung von der Meinungsfreiheit gedeckt ist.
2. Der Antragsteller kann von der Antragsgegnerin gestützt auf die §§ 241 Abs. 2, 1004 BGB die Unterlassung der Sperre und der Löschung aufgrund der streitgegenständlichen Äußerung verlangen.
a. Die Parteien haben nach dem glaubhaft gemachten Vortrag des Antragstellers einen Vertrag über die Nutzung des sozialen Netzwerks der Antragsgegnerin geschlossen, bei dem es sich um einen schuldrechtlichen Vertrag mit miet-, werk- und dienstvertraglichen Elementen handelt (vgl. KG Berlin DNotZ 2018, 286 [KG Berlin 31.05.2017 - 21 U 9/16] Rn. 56 m.w.N.). Gegenstand dieses Vertrages sind auch die von der Antragsgegnerin gestellten Verhaltensregeln als AGB.
b. Grundsätzlich kann der Betreiber eines sozialen Netzwerks seine Verhaltensregeln auch durch Entfernung eines rechtswidrigen Inhalts oder durch Sperrung eines Nutzeraccounts durchsetzen (Schwartmann/Ohr in Schwartmann, Praxishanduch IT-, Urheber- und Medienrecht, 4. Aufl. 2018, Kap. 11 Rn. 40; vgl. zu einer Facebook-Seite auch VG München, Urt. v. 27.10.2017 - M 26 K 16.5928).
Eine solche Sperre ist jedoch nicht voraussetzungslos möglich, z.B. lediglich aufgrund einer ungeprüften Beschwerde eines anderen Nutzers. Der zwischen dem Nutzer und dem Plattformbetreiber geschlossene Vertrag beinhaltet Schutzpflichten des Plattformbetreibers gemäß § 241 Abs. 2 BGB. Im Rahmen dieser Schutzpflichten sind - im Wege der mittelbaren Drittwirkung - die Grundrechte der Betroffenen zu berücksichtigen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 11.04.2018 - 1 BvR 3080/09, BeckRS 2018, 6483), was insbesondere dazu führt, dass der Nutzer grundsätzlich ohne Furcht vor Sperren zulässige Meinungsäußerungen auf der Plattform kundtun darf.
Danach kann eine Sperre auch unter Berücksichtigung der dem Äußernden zu Gebote stehenden Meinungsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 GG gerechtfertigt sein, wenn der Äußernde mehrfach den Tatbestand der Beleidigung erfüllt und damit sowohl die Rechte anderer Nutzer verletzt als auch den Diskussionsverlauf nachhaltig gestört hat (VG München, Urt. v. 27.10.2017 - M 26 K 16.5928 Rn. 19 - juris). Hierbei kann auch Berücksichtigung finden, ob das Verhalten des Äußernden geeignet ist, eine weitere sachliche Diskussion zu verhindern bzw. andere Nutzer fernzuhalten (vgl. VG München, Urt. v. 27.10.2017 - M 26 K 16.5928 Rn. 27 - juris). Bei nachhaltigem, beleidigenden Verhalten soll der Betreiber nicht verpflichtet sein, den Nutzer weiterhin zu dulden (vgl. VG München, Urt. v. 27.10.2017 - M 26 K 16.5928 Rn. 30 - juris).
Diesen Einschränkungen der Möglichkeit des Plattformbetreibers, den Nutzer zu sperren, stehen grundsätzlich auch nicht die Nutzungsbedingungen der Antragsgegnerin (Anlagen KTB1, KTB2) entgegen. Diese können zwar als Auslegungshilfe dienen, aufgrund der Drittwirkung der Grundrechte können zulässige Meinungsäußerungen jedoch grundsätzlich nicht untersagt werden (vgl. LG Bonn MMR 2000, 109 [LG Bonn 16.11.1999 - 10 O 457/99]; LG Köln Urt. v. 4.5.2005 - 9 S 17/05, BeckRS 2005, 10688; VG München, Urt. v. 27.10.2017 - M 26 K 16.5928 Rn. 17 - juris).
c. Die streitgegenständliche Äußerung rechtfertigte ihre Löschung und die Sperrung des Antragstellers nicht. Sie stellt eine noch von der Meinungsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 GG gedeckte Meinungsäußerung dar.
Wie wir uns in diesem Fall (vorläufig) positionieren
Zu der Konklusion – „Die streitgegenständliche Äußerung rechtfertigte ihre Löschung und die Sperrung des Antragstellers nicht. Sie stellt eine noch von der Meinungsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 GG gedeckte Meinungsäußerung dar.” – hätten nach unserer Einschätzung sowohl das Landgericht als auch das Kammergericht Berlin gelangen müssen.
In einem Essay von Dr. Mateusz Grochowski, LL.M. (Yale) vom 18. Mai 2023 heißt es:
„Die Prämisse, dass die Nutzungsbedingungen einer Plattform Bestandteil eines B2C-Vertrags sind, wurde in der Rechtsprechung des EuGH nicht ernsthaft in Frage gestellt. Lange bevor die Regulierung von Plattformen ganz oben auf der Agenda der digitalen Märkte der EU stand, hatte das Amazon-Urteil von 2016 dies bereits eindeutig bestätigt. In Beantwortung eines Vorabentscheidungsersuchens zur Rechtswahlklausel in den Amazon-Nutzungsbedingungen stellte der Gerichtshof klar, dass die Amazon-Nutzungsbedingungen – wie alle anderen vorformulierten Verbraucherverträge – gemäß der UCTD auf Unangemessenheit geprüft werden sollten. Zweifellos gilt dieselbe Logik auch für Social-Media-Plattformen. Der EuGH bestätigte eindeutig, dass die Beziehung zwischen Plattform und Nutzer auf einem Verbrauchervertrag beruht und dass dieser Charakter verloren gehen kann, wenn die Online-Aktivitäten des Nutzers „überwiegend beruflicher Natur“ werden (Schrems-Urteil).
Die Folge waren deutsche Präzedenzfälle. In einer Reihe von Urteilen befassten sich deutsche Gerichte mit Klagen einzelner Social-Media-Nutzer, die einer Plattform (meist Facebook) die Verletzung ihrer Rechte vorwarfen. Kernpunkt all dieser Streitigkeiten war eine Klausel in den Nutzungsbedingungen, die der Plattform verschiedene Rechte gegenüber den Nutzern einräumte. Letztlich waren sich die deutschen Gerichte verschiedener Instanzen einig, dass der Angemessenheitstest gemäß §§ 305–310 BGB (der die UCTD umsetzte) der maßgebliche Maßstab für die Überprüfung dieser Fälle war. Aufgrund der spezifischen Thematik und der betroffenen individuellen Rechte hatten die meisten dieser Fälle das Potenzial, wegweisend zu sein. [...]
Sie alle basieren auf dem grundlegenden Gedanken des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ,dass die Schaffung eines Raums für den öffentlichen Diskurs eine höhere Verantwortung für die Achtung der Grundrechte mit sich bringt.
Mehrere BGH-Entscheidungen befassten sich eingehender mit den Moderationsmechanismen der Plattformen. Das Gericht legte in diesen Entscheidungen Grundrechte – insbesondere die Meinungsfreiheit – als Maßstab für die Überprüfung zugrunde, ob die von den Plattformen einseitig in ihren Nutzungsbedingungen festgelegten Moderationsrechte dem erwarteten Standard des Nutzerschutzes entsprachen. Dieser Ansatz wurde insbesondere in den BGH-Urteilen von 2021 zum Thema „Hassrede“ (︎︎︎III ZR 179/20 und ︎︎︎III ZR 192/20) deutlich. In diesen beiden Fällen befasste sich der BGH mit den Klagen von Facebook-Nutzern, deren Konten vorübergehend gesperrt und deren Kommentare unter Beiträgen anderer Nutzer gelöscht worden waren. Facebook argumentierte zur Rechtfertigung dieser Sanktionen, dass die Nutzer in beiden Fällen durch die Verwendung von “Hassrede” gegen die Community-Standards der Plattform verstoßen hätten.
Laut BGH verstieß diese Regulierung der Meinungsfreiheit gegen Treu und Glauben und stellte einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Meinungsfreiheit der Nutzer dar. Der BGH wies ferner darauf hin, dass dieses Recht mit dem Recht des Plattformbetreibers auf Ausübung einer Geschäftstätigkeit, das gleichermaßen im Grundgesetz verankert ist, in Einklang gebracht werden müsse.
Die vom Bundesgerichtshof in diesem Fall aufgestellte Checkliste zur Überprüfung der Facebook-Nutzungsbedingungen basiert daher auf drei Säulen: Meinungsfreiheit, Marktfreiheit und den Interessen der Plattformnutzer als Verbraucher.
[...]
Die gerichtliche Überprüfung unfairer Bedingungen trägt einer dezentralen Plattform-Governance Rechnung, die auf Interessen des Verbrauchers basiert. Der DSA hingegen verfolgt eine ganzheitlichere Perspektive. Er zielt darauf ab, alle Online-Vermittler (nicht nur soziale Medien) in einheitliche Standards und Regeln einzubeziehen und gegebenenfalls in konsolidierte Durchsetzungsmechanismen zu integrieren.
Wie könnten diese beiden Mechanismen nach Inkrafttreten des DSA interagieren? Werden die gezielten Regeln des DSA zur privaten Regulierung durch Plattformen und zur Online-Inhaltsmoderation die auf der UCTD basierende Überprüfung der Nutzungsbedingungen ersetzen?
Die einfachste und überzeugendste Antwort lautet: Kaum.
DSA [...] vermeidet weitgehend direkte Verbindungen zum Verbraucherschutz. Dadurch spaltet der DSA die Online-Marktregulierung in zwei Bereiche: Inhaltsmoderation nach plattformspezifischen Regeln einerseits und die etablierten Instrumente des Verbraucherschutzes andererseits. Diese Aufteilung bietet zwar ein breiteres Spektrum an Instrumenten zum Schutz von Nutzern im Internet, wird aber durch kein Koordinierungsschema ergänzt. Die Folge ist, dass ein und dieselbe Frage (z. B. die zulässigen Kriterien für die Sperrung eines Benutzerkontos) von Gerichten im Rahmen der Unfairnessprüfung anders beurteilt werden kann als von den gemäß dem DSA eingesetzten Regulierungsbehörden für digitale Märkte. Solche Unstimmigkeiten können sowohl auf EU- als auch auf nationaler Ebene sowie zwischen beiden auftreten. Die Chancen, dass Gerichte und Regulierungsbehörden ihre Vorgehensweisen auf diesen Ebenen tatsächlich koordinieren, erscheinen eher gering.”
Grochowski, Mateusz: Vom Vertragsrecht zur Online-Rederegulierung, VerfBlog, 18.05.2023
Das Urteil des Kammergerichts Berlin vom 18. September 2025 dürfte daher ein formales, rechtswidriges (weil alleiniges) Ausweichen auf den Digital Services Act darstellen und entsprechend aufzuheben sein, was den Erfolg im Nichtzulassungs- oder Verfassungsbeschwerdeverfahren voraussetzt. Der Gegenstandswert im Verfahren von Jörg Kuttig ist evtl. zu gering, um eine revisionsgerichtliche Überprüfung durch den Bundesgerichtshof zu erreichen, weswegen dann nur noch der Weg zum Bundesverfassungsgericht eröffnet ist. Eine Verfassungsbeschwerde wurde vom Rechtsanwalt des Klägers bereits angekündigt.
Die Rechtsprechung, die wir mit dem Urteil KG, Az.: 10 U 95/24 erleben, steht im Kontrast zu früherer, grundrechtsbezogener Rechtsprechung (wie erörtert). Der Senat, der in der gegenwärtigen Besetzung immer häufiger durch zweifelhafte Solitärentscheidungen auffällt, hat eine Linie eingeschlagen, die im Ergebnis auf eine Hierarchisierung von Wahrheit hinausläuft: Über der individuellen Meinungsfreiheit wird eine von Behörden oder staatlichen Institutionen definierte (vermeintlich objektive) Wahrheitsebene etabliert.
Der DSA verpflichtet große Plattformen außerdem zu Maßnahmen gegen sogenannte „desinformative Inhalte“ und droht bei Nichterfüllung mit empfindlichen Bußgeldern bzw. Strafzahlungen. Dieser Regulierungsansatz, den das Kammergericht mit seinem Urteil gutheißt, birgt die Gefahr, dass Plattformen aus Furcht vor Sanktionen jede Form abweichender oder kritischer Auseinandersetzung, die sich nicht in den Konsens staatlicher oder behördlicher Einschätzungen fügt, präventiv bzw. im vorauseilenden Gehorsam unterdrücken. Im Kern läuft dieses Konzept, das zu Recht auf breite Kritik stößt, auf eine Delegation von Wahrheitskompetenz an staatliche oder quasi-staatliche Stellen hinaus, und damit auf eine strukturelle Verdrängung des offenen Meinungsaustauschs, der doch aber das Wesen demokratischer Verfasstheit ausmacht.
Das Kammergericht operiert mit seinem LinkedIn-Urteil in einem Geist regulatorischer Unterdrückung, da es sich ausschließlich auf die Vorgaben des Digital Services Act (DSA) stützt und der Plattform LinkedIn das Recht zuspricht, Beiträge zu löschen, die den Richtlinien, Ansichten oder Vorgaben der WHO oder lokaler Gesundheitsbehörden widersprechen. Damit erhebt das Gericht faktisch die behördliche Sichtweise zu einer verbindlichen Wahrheitsinstanz und verschiebt den Diskurs von einem pluralistischen Meinungsraum hin zu einer verwaltungsförmig beaufsichtigten Kommunikationsordnung.
Das ist ein offener Bruch mit den Grundsätzen der Meinungsfreiheit (Art. 11 GRCh, Art. 8 & 10 EMRK, Art. 5 Abs. 1 GG).
Das Kammergericht Berlin behandelt den Digital Services Act (DSA) lex specialis, wodurch die bisherige UCTD- und AGB-Kontrolllogik verdrängt wird.
Im Ergebnis wird (vorläufig) klar, dass das Urteil des Kammergerichts Berlin vom 18.09.2025 keinen Bestand haben darf.
Ergänzender Hinweis
In einer Reihe von Entscheidungen wurde die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte gegenüber Unternehmen mit Sitz in Irland, z.B. LinkedIn oder Google, ausdrücklich bejaht.
„Die im deutschen Recht verankerte Störerhaftung ist mit dem Digital Services Act (DSA) der EU vereinbar. Das hat das Oberlandesgericht Düsseldorf (OLG) in einer Sitzung am 2. September in einem in einem Eilverfahren zwischen der Stuttgarter Firma Skinport und Google Irland entschieden (Az.: I-20 U 16/25). In dem heise online vorliegenden Protokoll des öffentlichen Termins weist der zuständige 20. Zivilsenat darauf hin, dass nach seiner Auffassung Artikel 6 DSA "die bisherige aufgrund der Vorgängervorschriften in der E-Commerce-Richtlinie praktizierte Störerhaftung weiter" zulasse.“
OLG Düsseldorf, Entscheidung v. 02.09.2025, Az.: I-20 U 16/25
Die Klage ist zulässig. Die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte, die auch unter Geltung des § 545 Abs. 2 ZPO in der Revisionsinstanz von Amts wegen zu prüfen ist (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 21. Januar 2021 - I ZR 20/17, GRUR 2021, 730 [juris Rn. 16] = WRP 2021, 471 - Davidoff Hot Water IV, mwN), ist gegeben. Sie folgt aus Art. 7 Nr. 2 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 (Brüssel-Ia-VO). Die Klägerin macht die Verletzung von im Inland geschützten Kennzeichenrechten - ihrer Marke und ihres Unternehmenskennzeichens - mittels eines in Deutschland abrufbaren und bestimmungsgemäß an den inländischen Verkehr gerichteten Internetangebots geltend (vgl. BGH, Urteil vom 15. Februar 2018 - I ZR 201/16, GRUR 2018, 935 [juris Rn. 17] = WRP 2018, 1081 - goFit; Urteil vom 15. Oktober 2020 - I ZR 210/18, GRUR 2020, 1311 [juris Rn. 16] = WRP 2021, 42 - Vorwerk).
BGH, Urteil vom 14.07.2022 - I ZR 121/21
Die internationale und örtliche Zuständigkeit des Landgerichts Hamburg folgen aus Art. 5 Nr. 3 des Lugano-Übereinkommens i.V.m. § 943 I ZPO. Nach Art. 5 Nr. 3 LugÜ kann im Hauptsacheverfahren eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines durch dieses Übereinkommen gebundenen Staates hat, in einem anderen durch dieses Übereinkommen gebundenen Staat verklagt werden, wenn eine unerlaubte Handlung oder eine Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, oder wenn Ansprüche aus einer solchen Handlung den Gegenstand des Verfahrens bilden, und zwar vor dem Gericht des Ortes, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist oder einzutreten droht. Als Ort, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist, gilt jedenfalls auch der Erfolgsort, also derjenige Ort, an welchem die geltend gemachte rechtsverletzende Handlung in das Schutzrecht eingreift. Art. 31 des LugÜ enthält davon keine Abweichung für das einstweilige Rechtsschutzverfahren (sondern eröffnet lediglich zusätzliche internationale Zuständigkeiten). Daher greift § 943 I ZPO für die Zuständigkeiten im eV-Verfahren ein.
LG Hamburg, Beschluss vom 12.05.2021 - 310 O 99/21
Google Ireland Limited ist aufgrund des Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Lugano-Übereinkommen, LugÜ) grundsätzlich zulässig in Deutschland in Anspruch zu nehmen.
vgl. Lugano-Übereinkommen: BVerfG, Beschluss vom 13.02.2020 - 2 BvR 739/17
a) Die vom Landgericht stillschweigend unterstellte – auch im Beschwerdeverfahren von Amts wegen zu prüfende (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 28.11.2002 – III ZR 102/02, NJW 2003, 426) – internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte ist zu bejahen. Maßgeblich ist die Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.12.2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVVO), weil die Antragsgegnerin ihren Sitz in Irland und damit in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union hat. Im Rahmen der Zuständigkeitsprüfung kann letztlich dahinstehen, ob es sich bei dem geltend gemachten Verfügungsanspruch um einen vertraglichen Erfüllungsanspruch oder um einen Anspruch aus unerlaubter Handlung handelt. In beiden Fällen wäre das Landgericht München II örtlich und damit auch international zuständig.
OLG München, Beschluss vom 24.08.2018 - 18 W 1294/18
Hervorzuheben ist ︎︎︎ BGH, Urteil vom 02.03.2010 - VI ZR 23/09

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